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© Ursula Neugebauer, Schwarzer Schnee, 2019, Installation, Photogrossdruck 150 x 240 cm, schwarzer Rock mit Blumendruck 120 x 70 x 70 cm

 URSULA NEUGEBAUER

 

 still und stand

 

opening

Sep. 5, 2021

15 - 18 h

 

Es spricht Christian Gögger

künstlerischer Leiter des Esslinger Kunstvereins e.V. Esslingen

 

exhibition September 5 - October 1, 2021

Es ist Zeit, dass es Zeit wird. 

Es ist Zeit.

...so lauten die letzten Verse eines Gedichts von Paul Celan aus dem Jahr 1948. Ich erlaube mir diese in dem Sinn zu verwenden, dass es Zeit geworden ist, endlich einmal wieder im Beisein von Besucherinnen und Besuchern eine Ausstellung zu eröffnen. An diesem sonnigen Sonntag ist es die Ausstellung mit dem Titel still und stand der in Berlin lebenden Künstlerin Ursula Neugebauer, die zum ersten Mal mit ihren Arbeiten in der Galerie Brigitte March vertreten ist. Das erwähnte Gedicht von Paul Celan trägt übrigens den Titel Corona und ich werde noch darauf zurückkommen.

Zur Künstlerin einige biografische Angaben: sie ist 1960 in Hamm (Westfalen) geboren und studierte an der Kunstakademie in Münster bei Timm Ulrichs. Wie Sie vielleicht wissen, ist auch sein Werk mit der Galerie March eng verbunden. Ursula Neugebauer studierte ebenso Sprachwissenschaften, was für meine Sicht auf ihre Arbeiten noch von Bedeutung sein wird. Seit 2003 lehrt sie an der Universität der Künste in Berlin. Als künstlerische Medien eignen ihr die Bildhauerei, die konzeptuelle Kunst, Fotografie, Film und in Teilen ebenso das Performative. Diese mediale Vielfalt übersetzt sie in komplexe und mitunter aufwändige Rauminstallationen. Der erste Eindruck beim Besuch der Präsentation in der Galerie March scheint diese Auffassung nicht zu bestätigen. Die Ausstellung wirkt zurückgenommen, pointiert, kühl elegant und eher reduziert. Die ausgewählten Arbeiten haben zumeist ihren Auftritt in größeren Zusammenhängen, sind Installationen entnommen und geben sich dokumentarisch. Dabei gelingt es der Künstlerin mit den Mitteln der Fotografie, der filmischen Aufzeichnung oder – in einem Fall – mit einer fast beiläufigen Teilinstallation, die wesentlichen Inhalte anklingen zu lassen, materiallos, beinahe schwerelos und gerade deshalb nachdrücklich ins Bild zu setzen. 

Das zentrale Thema der Arbeiten von Ursula Neugebauer lässt sich generell (gerade in dieser Zusammenstellung) als Ausdruck einer femininen Weltsicht bezeichnen, kontextualisiert mit Natur. Genauer: das Frausein, dessen gesellschaftliche Zurichtung, historisch und aktuell, unter Einbeziehung biografischen Materials, eindeutiger und wiederkehrender Farbkonnotationen: weiß, rot, schwarz und, wiederum speziell in der Auswahl in diesen Räumen, die Blumenmetapher, gleichsam als weibliche Blumenseele: das rote Kleid, dass sich scheinbar zu einer Blüte verwirbelt, die Margeriten auf dem Feld, der Mohn, die Tulpen, der geblümte Rocksaum. 

In der chronologischen Reihenfolge zeigt die Ausstellung vier Arbeiten, die früheste davon gleich in der Ladengalerie auf dem Bildschirm. Sie trägt den Titel tour en l’air und ist aus dem Jahr 1997/98. An Traversen sind Elektromotoren angebracht, die die Körper von Schaufensterpuppen mit langen, roten Ballkleidern rotieren lassen, zunächst noch verhalten tänzerisch, verformen sie sich schließlich mit zunehmender Geschwindigkeit zu roten Wirbeln. Die anatomisch weibliche Appretur des Kleides wird wuchtig in eine andere Form überführt. Kinetik, die auf Kleidung trifft ist, in der Kunst zu dieser Zeit, vor fast 25 Jahren, ein probates Mittel, um höhere Gewalt (gegen Frauen) sichtbar zu machen. Im Blick von unten auf das rotierende Kleid mutet es wie eine Rosenblüte an. Der Titel der Arbeit bezieht sich auf einen Begriff aus dem Ballett. Gemeint ist der Luftsprung des Tänzers, der Tänzerin, kombiniert mit einfacher oder mehrfacher ganzer Drehung.

Es folgt in der Halle die Arbeit von herzen mit schmerzen. Das sind Verse wie wir sie aus Abzählreimen kennen, hier konkret bezogen auf ein Kinderlied, etwa um 1911, es lautet:

Er liebt mich von Herzen, 

mit Schmerzen, 

über alle Maßen,

klein wenig

gar nicht.

Im Rahmen eines Projektes der Barkenhoff-Stiftung der Künstlerkolonie Worpswede hat Ursula Neugebauer auf einem 200 qm großen Feld eine Anpflanzung mit etwa 3000 Margeriten realisiert und sie eben jenem Spiel mit Pflanzen, dem Ausreißen der Blütenblätter – eine Art Blumenorakel – unterzogen. Zu sehen ist die fotografische Dokumentation dieses Stücks ‚Land Art’ aus dem Jahr 2000.

Eine weitere Arbeit mit geschundenen Blumen ist die zwölfteilige Fotoarbeit bondage von 2011. Das Wort kommt aus dem Englischen und bezeichnet gewaltsam eingeschränkte Bewegungsfreiheit. Die weißen Tulpenblätter sind mit einem roten Faden so vernäht, dass sie sich weder öffnen noch schließen können. Der feine rote Faden ist dabei Fessel und Blutspur zu gleichen Teilen.

Die letzte Arbeit, die es vorzustellen gibt, ist auch die jüngste in der Ausstellung. Diese stellt sich, mit dem großem Colorprint, dem davor platzierten Objekt und der kleinen s/w Fotografie, als die eingangs erwähnte Teilinstallation vor, als verräumlichte Umsetzung ihrer filmischen Vorlage. Sie trägt den Titel schwarzer schnee und ist aus dem Jahr 2019. Der Film von 20-minütiger Dauer ist ebenfalls auf einem der Monitore am Beginn der Ausstellung zu sehen. Die Kamera folgt einer Frau, eigentlich einem schwarzen Rock, die durch ein mit Mohnblumen durchsetztes Kornfeld streift. Die kleine, historische Fotografie ist eine Aufnahme der Mutter von Ursula Neugebauer als junge Frau. Die Blumenstickerei ihres Rocksaums liefert das Vorbild für den negativ umgesetzten Saum des über einen Ständer gestülpten Rocks. Dieses starre Objekt umschließt ein kegelförmiges Volumen, das schwarz und samten gefüttert scheinbar bodenlos ist. Das schwarze Loch ist gleichsam die Leerstelle für die abwesende Mutter, eine entschwundene Frau. Die Situation vor dem großen Farbprint ist ein Standbild, im englischen ein ‚still’ aus dem Film – es ist ursächlich für den Titel der Ausstellung in der Galerie March: still und stand. Die Verbindung durch und nicht and irritiert hinsichtlich der korrekten Aussprache. Tatsächlich aber funktioniert beides: stand still! – Bleib stehen! Stillstand usf. 

Auf die sprachliche Kompetenz der Künstlerin habe ich hingewiesen, an so einem Beispiel wird sie deutlich. Manfred Schneckenburger verweist in seiner Deutung der frühen Arbeit tour en l’air – das sind die rotierenden Kleider – auf das Essay Heinrich von Kleists über das Marionettentheater. Darin geht es um Anmut von Bewegung, die von einer Puppe wieder und wieder gleich ausgeführt werden kann. Eine Person aber, der eigenen Anmut bewusst, kann sich nicht wiederholt unschuldig, unbedarft, unvoreingenommen auf dieselbe Weise bewegen. Solche Verweise auf Literarisches bezogen auf die Arbeiten der Künstlerin kommen nicht von ungefähr, sie legen eine Spur zu möglichem Verständnis und laden die Aussagen neben engagierten, ins Werk gesetzten Intentionen mit Poesie auf.

Eingangs zitierte ich Paul Celan. In dem erwähnten Gedicht Corona lautet ein Vers:

Wir lieben einander wie Mohn und Gedächtnis

 

Darin scheint verdichtet, was wir in der Arbeit Schwarzer Schnee von Ursula Neugebauer vorgeführt bekommen. Ob es tatsächlich zutrifft bleibt Spekulation, wenn auch eine, die plausibel erscheint. Und es kommt noch besser. Celans erster veröffentlichter Gedichtband, aus dem Jahr 1952, trägt den Titel Mohn und Gedächtnis und dem Gedicht Corona folgt gleich auf der folgenden Seite das Gedicht Todesfuge (das die meisten von Ihnen wohl kennen) und dieses Gedicht beginnt mit den Worten:

Schwarze Milch der Frühe...

Aber das führt dann vermutlich doch zu weit. 

text © Christian Gögger


Sie und ihre Freunde sind herzlich willkommen!

Die Ausstellung ist bis zum 1. Oktober 2021 von Di - Fr von 10 - 13 h und von 15 - 18 h geöffnet.

 

Der Stuttgarter Galerienrundgang

ART ALARM 2021

findet am Samstag, dem 25. 09.21 von 11 - 20 h

und am Sonntag, dem 26.09.21 von 11 - 18 h statt

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© Brigitte March International Contemporary Art

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